Bei der ultraschnellen Entmagnetisierung führt die Drehung der magnetischen Momente zu einer sofortigen Rotationsbewegung der Atome. Bild: Hannah Lange, Andreas Donges und Ulrich Nowak, Universität Konstanz

Das Rätsel um den „verschwundenen“ Drehimpuls

Einem Konstanzer Forschungsteam gelingt die Lösung eines jahrzehntealten physikalischen Rätsels: der Frage nach dem Verbleib des Drehimpulses bei der ultraschnellen Entmagnetisierung von Nickelkristallen durch Laserlicht

In einem geschlossenen physikalischen System bleibt die Summe aller Drehimpulse konstant – das besagt ein wichtiger Erhaltungssatz aus der Physik. Dabei müssen die Drehimpulse nicht notwendigerweise „echte“ Drehungen sein: Magnetische Materialien besitzen selbst dann einen Drehimpuls, wenn sie von außen betrachtet ruhen. Das konnten die Physiker Albert Einstein und Wander Johannes de Haas bereits 1915 nachweisen.

Wird nun ein derart magnetisiertes Material mit kurzen Pulsen aus Laserlicht beschossen, so verliert es extrem schnell seine magnetische Ordnung. Innerhalb von Femtosekunden, dem millionstel Bruchteil einer Milliardstelsekunde, wird es entmagnetisiert. Der Drehimpuls der Elektronen im Material – auch Spin genannt – nimmt somit schlagartig ab, viel schneller als sich das Material in Drehung versetzen kann. Nach dem Erhaltungssatz darf der Drehimpuls jedoch nicht einfach verloren gehen. Wohin also überträgt sich der Drehimpuls der Elektronen in so extrem kurzer Zeit?

Die Lösung dieses Rätsels wurde jetzt in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht. In der Studie untersuchte ein Team unter Konstanzer Führung die Entmagnetisierung von Nickelkristallen mithilfe der ultraschnellen Elektronenbeugung – einem zeitlich und räumlich hochpräzisen Messverfahren, das den Verlauf struktureller Veränderungen auf atomarer Ebene sichtbar machen kann. Sie konnten zeigen, dass die Elektronen des Kristalls ihren Drehimpuls bei der Entmagnetisierung binnen weniger hundert Femtosekunden auf die Atome des Kristallgitters übertragen. Ganz ähnlich wie die Passagiere eines Karussells werden die Atome auf winzigen Kreisbahnen in Bewegung versetzt und gleichen so die Drehimpulsbilanz aus. Erst viel später und langsamer beginnt der nach Einstein und de Haas benannte, makroskopische Dreheffekt, der mechanisch gemessen werden kann. Diese Erkenntnisse zeigen neue Wege auf, wie sich Drehimpulse extrem schnell kontrollieren lassen, und eröffnen damit neue Möglichkeiten zur Verbesserung magnetischer Informationstechnologien oder neue Forschungsrichtungen in der Spintronik.

Wenn Sie mehr darüber erfahren möchten, wie der Nachweis der ultraschnellen Drehimpuls-Übertragung gelang und welche Möglichkeiten sich aus dem Effekt für zukünftige, energieeffizientere Technologien ergeben könnten, lesen Sie den ausführlichen Artikel als PDF im Anhang oder nach Ablauf der Sperrfrist in unserem Onlinemagazin campus.kn: https://www.campus.uni-konstanz.de/


Faktenübersicht:

  • Originalpublikation: S. R. Tauchert, M. Volkov, D. Ehberger, D. Kazenwadel, M. Evers, H. Lange, A. Donges, A. Book, W. Kreuzpaintner, U. Nowak, P. Baum (2022) Polarized phonons carry angular momentum in ultrafast demagnetization. Nature; DOI: 10.1038/s41586-021-04306-4
  • Physikerinnen und Physikern unter Konstanzer Führung gelingt die Lösung eines jahrzehntealten Rätsels: der Frage nach dem Verbleib des Drehimpulses bei der ultraschnellen Entmagnetisierung von Nickel
  • Methode: Beobachtung der Entmagnetisierung in Nickelkristallen mithilfe ultraschneller Elektronenbeugung und Interpretation der Beugungsmuster anhand von Computersimulationen
  • Ergebnis: Bei der ultraschnellen Entmagnetisierung überträgt sich der Drehimpuls der Elektronen innerhalb von Femtosekunden lokal auf die Atome des Kristallgitters, die dadurch auf Kreisbahnen in Bewegung versetzt werden.
  • Bedeutung: Erster experimenteller Nachweis von zirkular polarisierten (d.h. drehimpulstragenden) Gitterschwingungen (Phononen). Atomare Version des Einstein-de-Haas Effekts. Mögliche Anwendungen in der magnetischen Informationsverarbeitung und Spintronik.
  • Förderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Fluktuationen und Nichtlinearitäten in klassischer und Quantenmaterie jenseits des Gleichgewichts“ (SFB 1432) und Europäische Kommission im Rahmen von Horizont 2020