Kolloquien | Physik | Festveranstaltung

Absolventenfeier: Zu schön, um falsch zu sein

Wann
Dienstag, 18. Dezember 2018
15:15 bis 16:45 Uhr

Wo
R 513

Veranstaltet von
Der Fachbereichssprecher

Vortragende Person/Vortragende Personen:
Prof. Dr. Olaf Müller, HU Berlin

Über die Rolle des Schönheitssinns für den Erkenntnisfortschritt der Physik – das Beispiel der Optik

Physikerinnen und Physiker orientieren sich in ihrer Forschung nicht nur an der experimentellen Empirie (die objektiv von außen vorgegeben ist), sondern auch an ihrem Schönheitssinn, der eher von uns Menschen herkommt und insofern subjektiv erscheint. In der Tat spielen ästhetische Gesichtspunkte eine erhebliche Rolle für den wissenschaftlichen Fortschritt. Diese verblüffende Tatsache möchte ich mittels einer wissenschaftsgeschichtlichen Fallstudie zur Optik beleuchten. Wie sich zeigen wird, liegen Erfolge und Misserfolge, Chancen und Risiken nahe beieinander.  Vor Newton betrachtete man die Farbränder, die bei Lichtbrechungen entstehen, als Verschmutzung. (Sie nervten z.B. den Astronomen beim Blick durchs Linsenteleskop). Indem Newton die farblichen Verschmutzungen steigerte, statt sich an ihrer Beseitigung zu versuchen, wählte er die Parameter für seine Brechungs-Experimente so aus, dass sich die schönsten Ergebnisse zeigten; auf dieses ästhetisch optimale Experiment der Weißanalyse stützte er seine Theorie. Laut Newton muss sich jeder optische Prozess rückgängig machen lassen – das ist die Forderung der Zeitsymmetrie, deren Erfüllung unter Physikern als schön gilt. Und in der Tat drehte Newton sein Experiment um, indem er die Spektralfarben wieder zusammenbrachte (Weißsynthese).  Eine andere Symmetrie ist von Goethe in die Optik eingeführt worden: Wenn man in den Ausgangsbedingungen der newtonischen Weißanalyse die Rollen von Helligkeit und Dunkelheit vertauscht, dann kehren sich im Versuchsergebnis alle Farben in ihr Gegenteil um, und man sieht das Komplementärspektrum. Ästhetischerweise beherrscht diese Farbsymmterie das gesamte Gebiet der newtonischen Optik; so lässt sich auch Newtons Weißsynthese farblich umkehren, wobei die Scharzsynthese entsteht (nachgewiesen durch Nussbaumer). Inzwischen sind weitere Experimente durch Hell/Dunkel-Vertauschung umgedreht worden, sogar Herschels Experiment zum Nachweis der unsichtbaren Infrarot-Strahlung (Rang / Grebe-Ellis). Wie man sieht, führt die ästhetisch motivierte Forderung nach weitgehenden Symmetrien u. U. zu neuen empirischen Entdeckungen. Warum unser Schönheitssinn diese erkenntnisleitende Kraft hat, ist ein philosophisches Rätsel, das bis heute einer Lösung harrt. Mehr dazu im nächsten Buch von Olaf L. Müller: Zu schön um falsch zu sein (Fischer Verlag, April 2019).